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StartseiteWissenNewsAuf dem Weg zur Klimaneutralität
31. August 2021
Studie fordert Ausstieg aus der Erdgas-Nutzung – die Klimakosten des fossilen Energieträgers seien nicht ausreichend eingepreist
Eine Studie des Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) im Auftrag der EWS kommt zu dem Schluss, dass die Verbrennung von Erdgas zur Wärmeerzeugung weit klimaschädlicher ist als vielfach angenommen. Zudem würden die Klimakosten nicht verursachergerecht eingepreist. Die regenerative Wärmewende sei möglich, brauche aber unterschiedliche Wege und Technologien.
„Was Erdgas wirklich kostet – Roadmap für den Gasausstieg im Wärmesektor“ – so lautet der Titel der Studie [1]. Zugegebenermaßen ein provokantes Werk, denn in den Augen vieler Verbraucher gilt Erdgas als relativ sauberer Energieträger, trotz seines fossilen Ursprungs. Dem gegenüber kommt die vom Forum Ökologisch Soziale Marktwirtschaft (FÖS) im Auftrag der EWS Elektrizitätswerke Schönau durchgeführte Untersuchung zu dem Ergebnis, dass durch die Verwendung von Erdgas im Wärmesektor in Deutschland jährliche Treibhausgas (THG)- Emissionen in Höhe von 91,5 bis 107,2 Mio. t CO2-Äquivalenten anfallen – wovon 87,1 Mio. t verbrennungsbedingt aus CO2-Emissionen stammen und rund 4,4 bis 20 Mio. t aus Methanleckagen entweichen, etwa während der Förderung oder des Transports aus undichten Bohrlöchern oder Pipelines, durch nicht vollständige Verbrennung oder durch das beabsichtigte Ablassen bei Wartungen von Ferngasleitungen. Zum Vergleich: die gesamten CO2-Emissionen des Landes Berlin betrugen im Jahr 2019 etwa 17 Mio. t CO2.
Ist Gas zu billig?
Allein die finanziellen Folgen erscheinen gewaltig: „Durch die Nutzung von Erdgas im Gebäudesektor entstehen allein in 2021 Klimakosten von rund 18 bis 21 Mrd. Euro, wobei auf die besonders klimawirksamen Methanleckagen rund 0,9 bis 4 Mrd. Euro entfallen“, heißt es in der Studie. Knapp 75 % der Klimaschadenskosten seien derzeit noch nicht berücksichtigt. Der CO2-Preis (aktuell 25 Euro/ t), der bis 2025 schrittweise auf 55 Euro/ t ansteigen soll, reiche nicht aus, um die Klimaschäden vollständig einzupreisen. Stattdessen müsse bis 2030 ein Preis in Höhe von 215 Euro pro Tonne CO2 erreicht werden. Der „echte“ Erdgaspreis falle um rund 50 % höher aus als der Gaspreis, der heute durchschnittlich gezahlt werde.
Um den Erdgasausstieg im Gebäudesektor kurzfristig einzuleiten, haben die Studienmacher ein breites Maßnahmenpaket entwickelt. Für das SHK-Handwerk am relevantesten dürften die ordnungsrechtlichen Instrumente sein. Erdgasheizungen, so heißt es, dürften nicht mehr gefördert werden, auch nicht in Kombination mit Erneuerbaren Energien. Stattdessen seien weitere gezielte Förderungen wie Austauschprämien für Gasheizungen, Sanierungen mit hohen Effizienz-Standards sowie eine Förderung für effiziente Wärmenetze mit geringen Vorlauftemperaturen notwendig. Spätestens bei der Überprüfung des Gebäudeenergiegesetz (GEG) im Jahr 2023 sollten außerdem die Effizienzvorgaben für alle Gebäude deutlich verschärft und eine Austauschpflicht sowie ein Einbauverbot für Gasheizungen ab 2026 festgelegt werden, so die Studie.
Isabel Schrems, Autorin der Studie und Wissenschaftliche Referentin beim FÖS, hob bei der Vorstellung ihrer Analyse hervor, dass das Potenzial aus Solarthermie, Biomasse, Geothermie, Umweltwärme und Abwärme aus der Industrie im Jahr 2030 bei 1403 bis 2183 Terrawattstunden liege. Damit sei es fast doppelt so hoch wie der heutige Endenergieverbrauch im Gebäudewärmesektor. Zusammen mit der erwarteten weiteren Zunahme der Energieeffizienz sei sehr wahrscheinlich, dass in Deutschland bis Ende des Jahrzehnts genügend erneuerbare Wärme erzeugt werden könne.
Negative Klimaeffekte berücksichtigen
Die Plattform Erneuerbare Energien Baden-Württemberg (EE BW), eine Dachorganisation der Verbände, Unternehmen und Forschungsinstitute aus der Erneuerbare-Energien-Branche in Baden-Württemberg, kommt zu einer ähnlichen Einschätzung: „Wer heute noch eine fossile befeuerte Einzelheizung kauft oder eine Gasleitung in ein Wohngebiet legt, trifft eindeutig eine Fehlentscheidung, selbst wenn er plant, diese später mit grünem Wasserstoff1 zu betreiben“, sagt Jörg Dürr-Pucher, Vorsitzender der Plattform EE BW. Erdgas werde durch den CO2– Preis teurer und die negativen Klimaeffekte durch Erdgasförderung und Leckagen seien stärker zu berücksichtigen. Zudem sei grüner Wasserstoff im Gebäudesektor anderen Energieträgern unterlegen. Dürr-Pucher: „Eine Wärmepumpe macht aus einer Kilowattstunde Strom drei bis vier Kilowattstunden Wärme. Power-to-heat ist damit um den Faktor neun effizienter.“
Auf grünen Wasserstoff sollten Gebäudeeigentümer eher weniger setzen. Das sei ein knappes Gut. An dem erneuerbaren Gas hätten viele Akteure Interesse. Da das Gas noch lange knapp und teuer bleiben werde, komme es vermutlich erst einmal in der Industrie und in der Mobilität zum Einsatz.
Klimaneutralität doch mit Gas?
Ist das Aus für die Gasheizung also nur noch eine Frage der Zeit? Nein, sagt die im Juni vorgestellte Studie „Klimaneutral Wohnen“ [2] der Nymoen Strategieberatung. Sie untersuchte das CO2-Minderungspotenzial im deutschen Wohngebäudebestand und kommt zu dem Schluss, dass eine starke Reduktion der CO2-Emissionen, sogar bis hin zur Klimaneutralität, möglich ist. Wichtigster Hebel dabei sei der Einsatz von dekarbonisierten Energieträgern, d. h. Energieträger, die bei der Nutzung (Verbrennung) kein Kohlendioxid freisetzen. Kommt es dennoch zu einer CO2-Freisetzung, müssten die Mengen über andere Prozesse kompensiert werden.
Laut dieser Studie würden im Jahr 2050 zwei gasförmige Energieträger zum Einsatz kommen: ein Gasmix, der zu 80 % aus Biomethan und 20 % aus dekarbonisiertem Wasserstoff besteht, und reiner Wasserstoff, der aus grünen, türkisen und blauen Wasserstoffrouten produziert wird. Dr. Timm Kehler, Vorstand der Brancheninitiative Zukunft Gas, die die Studie in Auftrag gegeben hat, sagte in einem Interview gegenüber der IKZHAUSTECHNIK: „Unsere Studie macht deutlich, dass eine bezahlbare Wärmewende nur mit Gas möglich ist. Und wo heute noch Erdgas durch die Leitungen fließt, sind es zukünftig regenerative und synthetische Gase sowie Wasserstoff.“
Schlussbemerkung
Die beiden Studien und die Einschätzung der EE BW zeigen eines deutlich auf: Der Weg zur Klimaneutralität führt über verschiedene Pfade. Schwarz oder weiß gibt es hier nicht. Ein kompletter Verzicht auf den Energieträger Gas dürfte zum Beispiel gerade in Ballungsgebieten mit Gas-Etagenheizungen oder im Mehrfamilienhausbereich aufgrund der gewachsenen Infrastruktur eine enorme Herausforderung darstellen. Die Umstellung auf regenerative und synthetische Gase klingt also durchaus schlüssig. Doch lässt sich dieser technologische Wandel in der Kürze der Zeit realisieren? Es geht schließlich um Jahre, nicht um Dekaden.
Unabhängig der Klärung dieser elementaren Frage bleibt die zwingende Notwendigkeit, das Heizen mit fossilen Energieträgern signifikant zu reduzieren, und zwar eher heute als morgen. Ansonsten rückt das Ziel der Klimaneutralität in weite Ferne. Insofern ist jede eingesparte Kilowattstunde an fossiler Energie ein Gewinn für die Umwelt und für die nachfolgenden Generationen.
Literatur:
Studie „Was Erdgas wirklich kostet: Roadmap für den fossilen Gasausstieg im Wärmesektor“, Kurzlink: bit.ly/waserdgas
Studie „Klimaneutral Wohnen“, https://www.nymoen-strategieberatung.de/user/pages/03.downloads/klimaschutz-im-waermemarkt-wie-koennen-wir-klimaneutralitaet-im-bereich-der-wohngebaeude-erreichen/NSB_Waermemarktstudie_2021.pdf
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